Das Problem mit unaufgeforderten Ratschlägen

Frau geht auf Eis - Foto von Nick Linnen auf Unsplash

Behutsam setzt Carla einen Fuß auf das Eis. Es hält.

Sie geht einen Schritt vorwärts. Das Eis hält.

Ein weiterer Schritt. Kriech! Sie hört das Ächzen des Eises.

Ein weiterer Schritt. Ein Haarriss zick-zackt unter ihrem Fuß weg.

Carla bleibt stehen. Sie untersucht das Eis. Sie sucht nach Veränderungen in Farbe und Beschaffenheit.
Sie nimmt sich Zeit, spürt, fühlt, beobachtet.

Am Ufer des zugefrorenen Flusses haben sich ihre Freunde versammelt. Sie glauben, dass Carla festsitzt, und sie feuern sie an.
"Geh weiter! Du schaffst das! Mach dir keine Sorgen!", ruft ihre Freundin Josie.

Ein Hauch von Frustration und Ungeduld macht sich am Ufer breit.

Dann plötzlich stapft Josie auf das Eis.
"Hör auf, herumzualbern! Schau, du musst dein Ziel im Auge behalten und einfach vorwärts darauf zu gehen! Sieh zu und lerne!", sagt sie selbstbewusst, bevor sie auf das Eis stürmt.

Dabei behält sie immer nur die andere Seite des Ufers im Auge.

Sie achtet nicht auf die Risse, scheint nie zu zögern oder zu verlangsamen, und ... mit einem Kreischen bricht Josie ins eisige Wasser ein, genau in der Mitte des seichten Stroms.

Nass, zitternd und fluchend krabbelt sie danach auf die andere Seite ans Ufer.
Sie hat es geschafft!
Sie hat ihr Ziel erreicht!

Carla schaut weiter zu.

Sie geht ein paar Schritte zurück und zur Seite.

Sie bemerkt die Felsblöcke, die durch das Eis ragen.
Sie tritt auf einen, dann den nächsten und den danach, und kommt auf der anderen Seite des Ufers an.
Sie schafft es!
Sie erreicht ihr Ziel!
Trocken und warm. Ruhig.

Ich bin gegenüber unaufgeforderten Ratschlägen misstrauisch geworden.

Denn manchmal kann das, was wie Angst und Zögern aussieht,
einfach nur Handeln oder Denken in einem anderen Tempo als dem meinen sein.

Und was nach Entschlossenheit und furchtlosem Handeln aussieht,
ist vielleicht uneinsichtig und vom Ego getrieben.

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